Schattenriss von G.C. Lichtenberg Lichtenberg-Gesellschaft e.V. Darmstadt, Hochschulstr. 1, 64289 Darmstadt
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Was bedeutet uns G. C. Lichtenberg heute?
Eine Einführung

Würde man heute eine der sattsam bekannten Straßenbefragungen durchführen, etwa an Georg Christoph Lichtenbergs Geburtsort Ober-Ramstadt, so würde man schon glücklich sein zu hören, dass "de Lischtebesch", wie er in seinem heimatlichen Idiom ausgesprochen wird, "der mit den Aphorismen" sei. (Es kann aber auch passieren, dass man auf den ein paar Kilometer entfernten Odenwaldort Lichtenberg verwiesen wird). Viel tiefer ist die Erinnerung an den vielleicht bedeutendsten und vielseitigsten Vertreter der Aufklärung in Deutschland nicht im kulturellen Gedächtnis verankert.

Dabei fußt doch manche Redensart auf seinen Notizen, und auch wenn er nicht immer ihr Erfinder war, so hat er ihr doch die zugespitzte Schärfe gegeben. Da ist zum Beispiel das Messer ohne Klinge (pdf), an dem der Stiel fehlt oder der Affe, der nicht als Apostel aus einem Spiegel herausschauen kann, oder die Frage, ob es im Buch sei, wenn es bei seiner Kollision mit einem Kopf hohl klingt, oder die Fackel der Wahrheit, die man nicht durch eine Gedränge tragen kann, ohne anderen damit den Bart zu versengen - und viele andere Dicta mehr. Auch wenn diese Wendungen nicht immer von ihm selber sind, so hat er sie doch für uns heutige bis zur Zitierfähigkeit "verschlimmbessert" (und das ist nun wirklich ein Ausdruck von ihm, das sei den Pressemenschen ins Stammbuch geschrieben; vgl. Bw IV, 2860).

Aber was kann uns Lichtenberg heute sonst noch bieten (und auch späteren Zeiten und Generationen)? Tatsache ist zunächst, dass bisher jedes Zeitalter eigene und andere Fragen an ihn gerichtet hat; seine Zeitgenossen erkannten in ihm den Verfasser von scharfen Satiren, den polemischen Florettfechter. Der berühmte satirische Erklärer der Hogarthischen Bildersatiren war er im 19. Jahrhundert, erst an dessen Ende erkannte man den Philosophen in ihm, der zeigt, wie man zu denken hat (oder doch zu denken haben könnte). Erst mit der Entdeckung und wissenschaftlichen Auswertung seines Nachlasses fand man in ihm den Begründer eines modernen deutschen Aphorismus wieder, ein Findungsprozess, der bis heute nicht abgeschlossen ist.
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Vergessen wir nicht: Lichtenberg war Naturwissenschaftler, ein Physikprofessor, der das Experiment so extrem wie noch nie vor ihm als einen integralen Bestandteil des Unterrichts etablierte, weil es eben auch in seiner Mischung aus Versinnlichung abstrakter Prozesse und heuristischem Mittel zum Aufspüren neuer Einsichten und unbemerkter Wahrheiten so nützlich wie unabdingbar ist. Das physikalische Denken bestimmte auch sein übriges, und was ihm sein viel berühmterer Schüler Alexander von Humboldt einst dankbar schrieb, gilt doch noch uneingeschränkt heute für den ganzen Lichtenberg: "Ich achte nicht bloß auf die Summe positiver Erkenntnisse, die ich ihrem Vortrage entlehnte - mehr aber auf die allgemeine Richtung, die mein Ideengang unter Ihrer Leitung nahm. Wahrheit an sich ist kostbar, kostbarer noch die Fertigkeit, sie zu finden" (3. 10. 1790, Bw III, 1747).

Seit Wolfgang Promies vor 36 Jahren erst eine Bildmonographie bei Rowohlt herausbrachte und danach eine Werkausgabe bei Hanser publizierte, sind von diesen beiden insgesamt je 35.000 Exemplare verkauft worden; das ist nicht eben viel, durchschnittlich rund 1000 Käufer, denen Lichtenberg mehr als 50 € wert war und ihn hoffentlich auch gelesen haben. Freilich sagte Lichtenberg, "Ein Louisd'or in der Tasche ist besser als 10 auf dem Bücherschrank." (D 509) Aber bei sich hätte er doch wohl mal eine Ausnahme gemacht, und gemessen an über 100 Millionen Sprechern des Deutschen kann da nicht von einer besonders großen Zahl geredet werden. Die Lichtenberg-Gesellschaft e.V., die sich hier präsentiert, ist mit derzeit rund 300 Mitgliedern sogar ein (noch) exklusiverer Verein, obgleich ihr Mitgliedsbeitrag keineswegs überwältigend hoch ist.
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Dabei schmückt sich doch mittlerweile jeder deutsche Politiker, gleichgültig welcher Provenienz, mit Zitaten von ihm, und auch wenn sich das in der bürgerlichen Mitte zwischen den Grünen und den Gelben verdichtet und am roten wie braunen Rand eher spärlicher begegnet, so stimmt es einen doch bedenklich, dass da einer so eine Art Selbstbedienungsladen für Sprüche auf allen Feuerwehrbällen geworden ist. (Freilich hat das seine Ursache in einer besonderen Qualität des Zitatgebers: Er denkt eben dialektisch den Gegensatz gleich mit, entweder im Gedanken selbst, in seiner unmittelbaren Umgebung oder doch im Verlauf eines Denkens von wenigstens 34 Jahren Dauer, und da darf schon mal einer seine Meinung ändern, wenn es denn begründet ist).

Und wenn Lichtenbergs Sudelbücher noch so sehr geplündert und von der Politikerphrase korrumpiert und zur Hure gemacht werden: Sie bleiben moralisch jungfräulich, und jeder Leser wird bei jedem Leseakt in ihnen etwas Neues finden und neues Vergnügen empfinden. Nicht nur Nietzsche fand jedenfalls (freilich mit ein bisschen andern Worten), dass die Sudelbücher zu den Büchern gehören, die man unbedingt auf eine einsame Insel mitnehmen muss. Und dass es sich bei solchen Studien und Lektüren darüber hinaus noch lohnt, das ganze Werk und auch die Biographie seines Verfassers zu erkunden, die in mehrfacher Hinsicht erhellend und exemplarisch für das Zeitalter und seine Kultur ist, für das "Wagnis der Aufklärung" und seine inneren dialektischen Widersprüche, bedarf schon fast keiner Begründung mehr. Zu solcher Beschäftigung lädt die Lichtenberg-Gesellschaft hiermit ein.

Ulrich Joost, Dezember 2002

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